Zum Produktportfolio des türkischen Busbauers Erduman Otomotiv gehört auch ein Reisewagen, den auffällig ein überdimensionierter Mercedes-Stern auf der Bugmaske schmückt. Bei dem so verzierten handelt es sich um einen Atego 12.240 Lord HD.
Auf der Website von Erduman verkneift man sich tunlichst den klingenden deutschen Modellnamen und weist explizit auf die robuste Atego-Basis mit dem Zusatz HD hin. In Deutschland vertreibt den Wagen seit diesem Jahr Omnibusvertrieb Steinborn aus Erbach bei Ulm. Geschäftsführer Uwe Steinborn hat seit 2011 bereits „beste Erfahrungen mit Erduman als Hersteller“ und er hat schon mit einigen spanischen und türkischen Aufbauern zusammengearbeitet. Jährlich verkauft er an die 100 Klein- und Midibusse, auch viele Modelle aus Bursa. „Mit diesem Wagen wollen wir erstmals in eine etwas höhere Liga vorstoßen, weil wir einfach vom Konzept überzeugt sind.“
Freilich ist das Konzept des Atego 12.240 Lord HD, wie der Wagen hierzulande semantisch aufgewertet wird, nicht ganz den hiesigen Gepflogenheiten. Er ist auf einem Verteiler-Lkw mit Frontmotorchassis aufgebaut. Das hat seine Vor- und Nachteile, die sattsam bekannt sind. Viele Aufbauer und Händler lassen lieber gleich die Finger von der robusten Lkw-Basis. Da wäre vor allem die kernige Lkw-Soundkulisse im vorderen Bereich, an die man sich eine ganze Weile erst gewöhnen muss. Ebenso wie an die eher ruppige Federung – immerhin ist die Luftfederung für die Parabolblattfederung an Starrachse Serie.
Zwar spricht das Datenblatt von „phonischer und thermischer Isolierung des Fahrgastraums“, aber der Sechszylinder OM 936 tut sehr vernehmlich rechts neben dem Fahrer sein Werk. Immerhin ist der Grundrahmen des Chassis so hoch, dass die Motorabdeckung nicht herausragt und einfach unter dem Laufgang verschwindet. Eine Fahrertür für den Einstieg in schwindelnden Höhen spart man sich ebenfalls. Die Gesamthöhe von 3,65 m bei einer Stehhöhe von recht guten 1,92 m geben dem Wägelchen denn auch gerade in Verbindung mit der selbstbewussten Frontgestaltung durchaus die Präsenz eines „Großen“.
Kleine Nachteile des hohen Rahmens wie der durchgehende Längsträger bis zur vorderen Stoßstange werden geschickt gelöst mit einer massiven, automatisch ausfahrenden Trittstufe à la Setra. Weitere Anlehnung an die Ulmer Luxusmarke ist der optische Abschwung der Fensterlinie zum Heck hin. Dieses wiederum prangt im „1a-Mercedes-Look-und–Feel“. Nur die kleinen 19,5er-Räder lassen dann doch merklich das Konzept erahnen, das beim ebenfalls lieferbaren 8-m-Wagen noch mehr in Richtung typisch türkisches Dolmuś abgleiten würde. In der 9-m-Variante stimmen die Proportionen aber besser (ebenso sind 9,46 m Länge lieferbar).
Insgesamt passen 30 bis 35 Fahrgäste in den Wagen, der Begleiter sitzt dabei recht kommod und behält den Überblick auf seinem hohen Podest. Bei einem zulässigen Gesamtgewicht von 12 t und einem Leergewicht von 8,5 t macht das genau 100 kg Nutzlast pro Fahrgast, ein realistischer Wert. Bei dem immensen Heck-Kofferraum von bis zu 7,5 m3 stehen jedem Reisenden dabei stolze 214 l Stauraum zur Verfügung. Das schafft kaum ein „Großer“!
Die elegant im Erduman-typischen Kantendesign geformten Gepäckablagen sind mit 16x42 cm sehr geräumig. Zwei Staufächer unterflur sind durchgehend für Ski-Ausflüge und Ähnliches geeignet. (Zudem ist die Fahrzeugbreite von 2,40 m ideal für so manches alpine Skigebiet!) Die Einstiege des kleinen „Großen“ sind ebenso großzügig. Die optionale TM-Mitteltoilette (Aufpreis 5.000 Euro) ist sehr gut und ohne die üblichen Verrenkungen erreichbar. Im recht hohen Mittelgang angekommen macht sich die Breite des Fahrzeuges auch mit nur rund 34 cm Gangbreite bemerkbar. Manche ausgewachsene Reisebusse bieten aber nur unwesentlich mehr. Die mit Kunstleder bezogenen und mit großem Mercedes-Logo geschmückten Sege-Sitze sind durchaus kommod und bieten viel Kopfseitenhalt. Die hochwertigen Servicesets dürften dem einen oder anderen Mercedes-Kunden ebenso bekannt vorkommen.
Auch das Cockpit gemahnt schnell an die Reisebusse der Marke und setzt sich wohltuend von anderen Aufbauer ab. Nichts wirkt gebastelt oder improvisiert, lediglich die Sicht in den leicht vibrierenden linken Außenspiegel sowie links an der B-Säule vorbei könnte besser sein.
Das Multifunktionslenkrad mit Stern ist ebenso Standard wie die hochwertigen Anzeigen mit dem Mercedes-typischen „Stacks & Cards-Menü“. Ablagen sind schon im Übermaß vorhanden, dass man schon aufpassen muss, diese nicht „zuzumüllen“. Die Verarbeitung des Wagens ist gut bis sehr gut zu nennen: Schraubenköpfe sind allesamt fein mit silbern glänzenden Kappen abgedeckt, die LED-Farbelemente an den Fenstersäulen vermitteln so etwas Luxus-Flair. LGS und Notbremser sind bereits an Bord. Erduman arbeitet gerade am abstandsgeregelten Tempomaten ART, der für die Autobahn doch segensreich wäre.
Also alles bereit für den deutschen (Nischen-) Markt? Das dürfte mit der rauen Basis schwierig werden. Nun sind 240 PS und 1.000 Newtonmeter nicht von Pappe und die Paarung mit dem automatisierten Sechsgang-Powershift-Getriebe funktioniert recht passabel – aber nur so ist eine Telma lieferbar.
Beim 12.270er Chassis ist 270 PS und nur unwesentlich mehr Drehmoment (1.100 Nm) ist (immerhin preisneutral) nur eine Motorbremse in Verbindung mit der Achtgang-Powershift lieferbar (ganz nebenbei ist auch die Betriebsbremse fein dosierbar). Und die Geräuschentwicklung einer Lkw-optimierten Motorbremse ist dem deutschen Reisenden kaum zuzumuten. Die Fahreigenschaften des robusten Fahrwerks mit Luftfederung vorne sind ausreichen komfortabel, so manches Mal muss der Schwingsitz des Fahrers aber doch arg die Vertikalbewegungen kompensieren.
Vorteilhaft ist der winzige Wendekreis von 17,3 m, der dem Radstand von unter 5 m geschuldet ist und ebenfalls für enge Bergtouren spricht. Weitere Vorteile der Lkw-Basis, an die man erst einmal nicht denkt: Mercedes gibt auf Lkw-Chassis drei Jahre und 250.000 km Garantie, und das theoretische Gesamtzuggewicht beträgt stolze 28 t – wer immer es ausprobieren mag. Weit ungefährlicher wäre es, diesen kleinen Mercedes mit großem Stern einfach ohne Zuglast zu probieren. Man muss nur einige festgefahrene Vorurteile über Bord werfen, und die richtigen Einsätze für den Wagen finden. Dann könnte bei dem günstigen Einstiegspreis die Rechnung für den schicken Midi für Nischeneinsätze durchaus aufgehen.
Text & Bildquelle: Olaf Forster